Gestaltung der wachsenden Stadt

30.08.2013

 

http://www.berlin.de/landespressestelle/archiv/20130830.0925.388621.html

Rede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, beim Mittelstandsfrühstück der Berliner Wirtschaftsgespräche am 30. August 2013

Pressemitteilung
Berlin, den 30.08.2013

Das Presse- und Informationsamt des Landes Berlin teilt mit:

Der Regierende Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, führte beim Mittelstandsfrühstück der Berliner Wirtschaftsgespräche am 30. August 2013 laut Redemanuskript aus:

Berlin ist wieder eine wachsende Stadt: Die Wirtschaft wächst, die Zahl der Arbeitsplätze steigt und die Bevölkerung wächst. Die guten Zahlen sind keine Selbstverständlichkeit nach den langen Durststrecken, die wir durchmachen mussten. Aber sie sind ein Erfolg, ein Grund zur Freude.


Viele haben dafür hart gearbeitet: zu aller erst die Unternehmen - davon 99,7 % mit weniger als 250 Beschäftigten; der Mittelstand ist die tragende Säule der Berliner Wirtschaft. Auch die Kammern und Verbände sowie die Politik haben die Rahmenbedingungen in Berlin gestaltet und zum Erfolg beigetragen.

Wir haben gemeinsam viel erreicht in den letzten Jahren:
Bereits seit 2005 liegt das Wirtschaftswachstum in Berlin deutlich über dem Bundesdurchschnitt und ist das höchste Wachstum aller Bundesländer.

Auch mit dem Zuwachs an sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen um über 31.000 (per Ende Mai) lag Berlin in den letzten 12 Monaten weiterhin bundesweit an der Spitze (+ 2,5 % zu bundesweit + 1,3 %).

Der Tourismus boomt: Berlin hat sich mit 24,9 Millionen Gäste-Übernachtungen unter den Top 3 der beliebtesten Städtereiseziele in Europa etabliert. In diesem Jahr könnten es 26 Millionen werden.

Berlin ist die Hauptstadt der Gründer und Start Ups: 2011 wurden hier pro 10.000 Einwohner 128 neue Gewerbe errichtet. Damit liegt Berlin über dem Bundesdurchschnitt von 84.

Der Schwerpunkt liegt in Berlin im Bereich der Digitalen Wirtschaft, die bereits 4,2 % der gesamtem Berliner Wirtschaftsleistung erbringt (zum Vergleich hat die Bauwirtschaft z.B. nur einen Anteil von 3,7%).

Das Wachstum hat erfreuliche Nebeneffekte. Die Steuereinnahmen sind deutlich gestiegen: 2010 - 10,4 Mrd. €, 2011 - 10,8 Mrd. € und 2012 - 11,6 Mrd. €. Die Löhne sind in Berlin 2011 und 2012 durchschnittlich um 3,7% bzw. 3,3% gestiegen (bundesweit jeweils nur +3,0%). Damit steigt die Kaufkraft der Bevölkerung. Berlin hat Grund zum Optimismus:

Nach den jüngsten Konjunkturberichten von IHK und Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung ist die Wirtschaftslage stabil. Für den kommenden Herbst gibt es Anzeichen einer konjunkturellen Belebung. Auch die IBB geht für das Gesamtjahr 2013 von einem Wachstum des BIP in Berlin um 1,6 % aus. Damit liegt Berlin deutlich über dem für Deutschland prognostizierten Wirtschaftswachstum von 0,3 bis 0,5 %.

Das Wachstum bringt neue Chancen für viele Menschen in unserer Stadt. Wir erleben gerade den Beginn einer zweiten Gründerzeit Berlins. Gründerhauptstadt sind wir schon. Gebaut wird wie wild - in der City West, am Leipziger Platz, in der Europacity am Hauptbahnhof, am Schlossplatz und am Alex. Immer mehr Menschen kommen nach Berlin, weil die Stadt international ein Magnet geworden ist.

„Gründerzeit": Der Begriff hat einen guten Klang. Wer liebt ihn nicht - den Charme einer Altbauwohnung aus dem späten 19. oder beginnenden Jahrhundert? Und wer denkt beim Stichwort Gründerzeit nicht an faszinierende Berliner Unternehmenskarrieren wie die von Siemens, AEG und Borsig?

Allerdings war schon die erste Gründerzeit bei weitem keine heile Welt. Während die Industrialisierung den Aufstieg Berlins zur Weltstadt bewirkte, herrschte in den Hinterhöfen des Wedding, in Kreuzberg und Neukölln das blanke Elend. Wir alle kennen die Bilder von Heinrich Zille...

Wachsende Stadt: Das ist die Überschrift für riesige Chancen. Aber damit ist eben auch eine gewaltige Herausforderung beschrieben: eine Gestaltungsaufgabe. Gutes Wachstum für die Stadt braucht Gestaltung! Wir stehen am Anfang einer neuen Phase der Stadtpolitik. Vordergründig geht es um mehr Wohnungen, mehr Kitas und Schulen, mehr Infrastruktur.

Aber es geht nicht nur um „mehr", sondern auch um das „Wie". Wenn der Wohnraum für Menschen mit geringen und mittleren Einkommen, für Familien und Senioren innerhalb des S-Bahnrings knapp wird, genügt es nicht, allein auf den Markt zu verweisen. Die Leerstandsquote für ganz Berlin liegt laut Zensus bei nur noch 3,5 %. Wir brauchen also mehr Wohnungen. Und wir brauchen vor allem Wohnungen für bestimmte Gruppen in unserer Bevölkerung. Wir brauchen sie nicht nur am Stadtrand, sondern auch mitten drin, um eine Spaltung der Stadt zu vermeiden.

Die Frage, die wir am Anfang der neuen Gründerzeit beantworten müssen, ist daher: In welcher Art von Stadt wollen wir in Zukunft leben? Wollen wir die bewährte Berliner Mischung erhalten und auch im innerstädtischen Bereich bezahlbare Wohnungen für alle?
Das hat nichts mit Sozialromantik zu tun. Das ist ein Stadtkonzept, um das uns viele Besucher aus aller Welt beneiden.

Oder akzeptieren wir, dass die Quartiere auseinanderdriften, dass sich an den Rändern ein Armutsgürtel bildet? Die Folgeprobleme kann man in vielen anderen Metropolen der Welt besichtigen.

Wir sind an einem Scheidepunkt städtischer Politik. Es geht darum, das Wachstum in vernünftige Bahnen zu lenken, mit dem Ziel, dass es den Menschen zu Gute kommt. Wir brauchen Leitplanken, wo die Mietenentwicklung aus dem Ruder läuft.

Im Bereich der städtischen Gesellschaften haben wir mit dem Mietenbündnis ein erstes Signal gesetzt. Wir machen von den gesetzlichen Möglichkeiten Gebrauch und begrenzen die zulässigen Mietsteigerungen. Aber wir müssen auch auf Bundesebene den gesetzlichen Rahmen weiter entwickeln, um Auswüchse zu verhindern. Stichwort Zweckentfremdung: Ich bin wahrlich ein überzeugter Förderer des Tourismus. Der hat Berlin sehr vorangebracht und viele neue Jobs gebracht.

Aber: Es gibt Fehlentwicklungen, über die wir offen sprechen müssen. Wir können und dürfen nicht hinnehmen, dass Wohnraum knapp wird und gleichzeitig in großer Zahl Wohnungen in Ferienwohnungen umgewandelt werden. Wohnungen sind in erster Linie zum Wohnen da. Der Senat hat daher einen Gesetzentwurf beschlossen, um der Zweckentfremdung Grenzen zu setzen.

Eine Fehlentwicklung ist übrigens auch die Situation der Beschäftigten im Gastgewerbe. Prekäre Beschäftigung heute bedeutet Armut im Alter.

Wachstum ist kein Selbstzweck. Es muss den Menschen nützen.

Ein großes Gestaltungsthema ist das Ausweisen von Flächen für Neubauvorhaben. Die Debatte um die Randbebauung des Tempelhofer Feldes bietet uns einen Vorgeschmack auf die Konflikte, die uns bevorstehen. Die Entscheidungen müssen sich an den Bedürfnissen der Stadt orientieren, nicht an der Lautstärke des Protests.

Ja, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, brauchen wir private Investoren. Sie sind uns hoch willkommen. Aber bitte nicht nur im Hochpreis-Segment, sondern auch mit Verantwortungsbewusstsein für die Mischung in der Stadt. Ich erwarte auch von privaten Investoren, dass sie Wohnungen für Familien anbieten und älteren Menschen einen Verbleib in ihrem vertrauten Umfeld ermöglichen. Wir brauchen das Engagement der städtischen Wohnungsbaugesellschaften und der Genossenschaften, die Wohnungen für breite Schichten der Gesellschaft bereitstellen.

Dies zu ermöglichen ist eine große politische Gestaltungsaufgabe für die nächsten Jahre.
Das beginnt mit der Bereitstellung der Grundstücke bis hin zur Finanzierung der Neubauprogramme. Keine leichte Aufgabe für eine Stadt, die immer noch hart arbeiten muss, um finanziell auf eigenen Beinen zu stehen.

Vernünftiges Wachstum für Berlin bedeutet jedoch deutlich mehr als neue Wohnungen und zusätzliche Infrastruktur (Kitas, Schulen und Verkehrswege). Wir haben die Chance, neue Wege zu beschreiten und modellhaft eine Stadt des 21. Jahrhunderts zu entwickeln und dabei die Stärken und das Knowhow Berlins einzubringen.

Unsere Gesellschaft wird älter: Berlin hat die Chance, nicht nur Modell einer gelungenen sozialen Mischung in einer sich dynamisch entwickelnden Großstadt zu sein. Angesichts immenser Neubauvorhaben können wir auch zeigen: Mit neuen Wohnformen können ältere Menschen in ihrem vertrauten Umfeld bleiben.

 

Wo die Bevölkerung und die Wirtschaft wächst, nehmen Verkehr und Energiebedarf zu: Berlin hat die Chance, Vorreiter neuer Formen großstädtischer Mobilität zu werden - optimal verknüpft, klimafreundlich, mit innovativer Technik, von neuester Batterietechnik für E-Mobility über Carsharing bis zu neuesten Apps aus den Ideenschmieden der Start-ups.

Und Berlin hat die Chance, Vorreiter für ein klimafreundliches städtisches Leben zu sein und damit die Energiewende voranzubringen.

Wir erleben einen enormen Zuzug von Menschen aus vielen Teilen der Welt, aktuell besonders von jungen, gut ausgebildeten Menschen aus Südeuropa: Berlin hat die Chance, aus dieser Zuwanderung neuen Schwung für die Internationalisierung der Stadt zu gewinnen, als weltoffene und tolerante Metropole, die Kreativen und Talenten vielfältige Entfaltungsmöglichkeiten bietet. Zukünftiges Wachstum erhöht den Bedarf an Fachkräften. Nur auf die Zuwanderer aus den Krisenländern Südeuropas zu schielen, reicht nicht aus.

Im Steuerungskreis Industriepolitik haben wir ein Bündel an Maßnahmen vereinbart. Im Mittelpunkt steht

- der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Unternehmen,
- das Wecken von Interesse für die MINT-Fächer,
- die gezielte Ansprache und Unterstützung von Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund,
- aber auch das Werben um mehr Ausbildungsengagement in den Unternehmen.

Für die Gestaltung der wachsenden Stadt gibt es keine Blaupause. Wir befinden uns mitten in den Debatten um den Stadtentwicklungsplan Berlin 2030. Wir haben unter Leitung der Senatskanzlei eine Arbeitsgruppe „Wachsende Stadt" auf Staatssekretärsebene eingerichtet, die über alle Ressortgrenzen hinweg den Handlungsbedarf sondiert und Empfehlungen erarbeitet.

Wir haben die Weichen für eine neue Liegenschafts- und Wohnungspolitik gestellt. Wir setzen im neuen Haushalt neue Prioritäten beim Ausbau der Infrastruktur, die sich am Wachstum der Stadt orientieren - und natürlich an den finanziellen Möglichkeiten der Stadt. Wir setzen auf Berlins Stärke und Ausstrahlung als internationale Metropole, um noch mehr Gäste in Berlin zu empfangen.

Und wir setzen auf die wiedererlangte Stärke Berlins im Bereich innovativer Industrien. Unsere Politik der Clusterbildung ist erfolgreich, auch weil es gelungen ist, sie immer wieder auf neue Zukunftsfelder auszurichten. Damit haben wir das Profil Berlins als innovative Metropole geschärft.

Jetzt kommt es darauf an, in der Gründerhauptstadt ‚old economy‘ und ‚new economy‘, traditionelle Industrie und junge Webindustrie in Berlin zusammenzubringen, um neue Ideen zu generieren und Arbeitsplätze mit Zukunft zu schaffen.

Das Wachstum ist gut für Berlin. Trotzdem wird eines der großen Themen der nächsten Zeit sein: dass aus Wachstum kein Wuchern wird. Wir dürfen niemanden zurücklassen. Berlin soll auch in Zukunft eine Stadt für alle sein.

Es geht um ein gemeinsames Wachsen. Das ist eine gewaltige Gestaltungsaufgabe und eine große Herausforderung für alle, die Verantwortung für Berlin tragen.

Wir müssen dabei zwei großen Versuchungen widerstehen - der Käseglocken-Ideologie, die jegliche Veränderung ablehnt und in eine Entwicklungsblockade für Berlin mündet, auf der einen Seite und dem blinden Vertrauen in die Kräfte des freien Marktes auf der anderen Seite.

Wenn es uns gelingt, in der Mitte zwischen diesen Extremen einen vernünftigen Weg in die Zukunft zu gehen, kann Berlin zum Modell einer wirtschaftlich dynamischen, lebenswerten und vor allem menschlichen Metropole werden.

 

ZN9670

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