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Die Barriere in den Justiz-Köpfen

21.09.2011

Die Barriere in den Justiz-Köpfen

Der zweite Tag der Xinnovations in der Humboldt-Universität

E-Justice: Fortschritt oder Stillstand?

Wegen der besonderen Stellung der Justiz als dritte Gewalt im Staat können IT-Lösungen aus anderen Bereichen nicht 1:1 in die Welt des Rechtswesens übertragen werden. Schwierigkeiten der IT-Modernisierung ergeben sich zum einen aus den spezifischen Anforderungen, die eigens entwickelte IT-Lösungen verlangen. Stichworte sind die Funktion des Anwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege oder die richterliche Unabhängigkeit. Beide sollen die Vorteile der Digitalisierung nutzen, aber ihre Daten müssen vor den unberechtigten Zugriffen Dritter geschützt sein, einschließlich anderer Staatsgewalten wie der Exekutive. Zweite Hürde der IT-Modernisierung ist die Veränderung von althergebrachten Organisationsstrukturen sowohl in den Anwaltskanzleien als auch den Gerichten.

Beide Schwierigkeitsfelder - technische Implementierung und organisatorisch-mentale Öffnung - haben den vor mehr als zehn Jahren begonnenen Prozess der Digitalisierung der Justiz „zum Stocken gebracht", wie es in der Einladung zum e-Justice-Forum formuliert wurde. Die ganztägige Veranstaltung am 20. 9. 2011 im Senatssaal der Humboldt-Universität hatte das Ziel, bereits vorhandene Lösungen zu präsentieren, Problembereiche zu lokalisieren und daraus gemeinsame Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Letzteres spielte sich vor allem in der abschließenden Podiumsdiskussion (Flying Talk) ab.

Grundlage der Diskussion waren sechs Thesen und Fragen, die Diskussionsleiter RA Lutz Diwell, StS BMJ a.D., eingang vorgestellt hatte. 1. Muß sich die Justiz endlich der digitalen Außenwelt stellen? 2. Werden die Möglichkeiten der digitalen Mediums optimal genutzt? 3. Elektronische Erreichbarkeit der Justiz bis zum Jahre 2013? 4. Defizite in der externen Kommunikation? 5. Offenheit technischer Infrastrukturen (EGVP, De_mail, E-Postbrief), 6. Vereinheitlichung von Standards.

Erste Antworten gaben mit zwei Impulsstatements MinR Holger Radke vom Justizministerium in Stuttgart und Uwe Berlit, Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.

Radke präsentierte unterschiedliche Zahlen zur Akzeptanz. So würden am Landgericht Stuttgart bei Streitfällen nach dem Zivilrecht seit 2008 bis heute monatlich maximal 50 Online-Eingänge registriert. Die Zahl habe sich im Laufe der Jahre nicht erhöht. Zum Vergleich: Insgesamt gehen monatlich 900 Verfahren ein. Radkes Schlußfolgerung: „Das Online-Verfahren wird von den Anwälten nicht angenommen". Anders verhält es sich in Rechtsfeldern, wo „leichte Zwänge" in technischer Richtung ausgeübt werden, wie bei Gerichtlichen Mahnverfahren. Seit 2008 wird verlangt, die Formulare dafür in maschinenlesbarer Form einzureichen. Seitdem hat sich der Post-Eingang dramatisch reduziert, dafür gehen jetzt 71 Prozent per Online-Zustellung ein. Der gleiche Effekt beim Elektronischen Handelsregister, wo es im letzten Jahr nahezu 10.000 Online-Zustellungen per EGVP gegeben habe. Radke: „Da funktioniert es".

Die Justiz, so sein Fazit zur ersten These, verfüge heute über eine moderne IT-Ausstattung und habe hier keinen Nachholbedarf. „Das Problem ist die Barriere im Kopf, die mentale Sperre". Den Schlüssel, hier etwas zu ändern, sah Radke in der „Ergonomie", in der Veränderung der Arbeitsabläufe dergestalt, dass der IT-Einsatz mit spürbaren Arbeitserleichterungen einhergeht. Dies bedeute auch, so der Reflex auf These 4, dass - bevor die Anwälte in die IT-Pflicht genommen werden - zunächst die Abläufe in den Gerichten entsprechend geändert und ergonomisiert werden. Dann könne es zu entsprechenden gesetzlichen Verpflichtungen kommen.

Verwaltungsrichter Berlit schloß sich sich bei der Bewertung des Ist-Zustandes der Einschätzung Radkes an: die Justiz sei weder technikfeindlich noch habe sie einen Modernisierungsrückstand. Der Punkt sei in der Tat „die Gestaltung der Arbeitsplätze", hier bestehe „Handlungsbedarf". Eine entsprechende Bundesrats-Initiative, die zuvor auch in dem Forum besprochen wurde, sei richtig, auch wenn sie doch recht spät komme. Berlit empfahl, bei diesen neuen Regelungen die Schutz- und Verfahrensziele in den Mittelpunkt zu stellen, anstelle der Normierung von konkreten Arbeitsschritten im Einzelnen.

Eine flächendeckende Umstellung auf elektronische Verfahren bereits bis zum Jahre 2013 hielt Berlit für verfrüht. „Wenn es dann schon von allen genutzt wird, bricht uns der Betrieb zusammen", war die Befürchtung des Leipziger Richters. Sympathie hatte Berlit allerdings für Ansätze, die Anwaltschaft zu einer „Anschluß- und Benutzungspflicht" in Richtung elektronische Justizkommunikation zu bewegen. Auch wenn es richtig sei, gewisse Dinge aktiv anzuschieben, werde sich in der IT-Welt auch für seine Institution vieles von selber entwickeln, war Berlits Auffassung: „Unsere Aufgabe ist es schließlich, Recht auf hohem Niveau zu sprechen und nicht, Technik-Freaks zu sein".

 In der sich anschließenden Diskussion wurde wiederholt der Verlust der Dynamik bei der Elektronisierung der Justiz beklagt. Nach den Pioniertechniken der ersten Stunde sei es nicht zu einer Standardisierung und Harmonisierung der Verfahren in breiter Weise gekommen. In Teilen hänge dies auch mit dem Förderalismus zusammen, da einzelne Bundesländer an ihren eingeführten Techniken festzuhalten suchten, statt sich für länderübergreifende Gesamtlösungen zu öffnen. Während in weiten Bereichen der Wirtschaft und privaten Nutzerschaft bestimmte IT-Standards längst Einzug gehalten hätten, stehe dies für die Justiz weiterhin aus. „Wir stehen in der Gefahr, dass sich die Gesellschaft technische radikal an uns vorbei bewegt“, formulierte es ein Diskussionsteilnehmer. Für Mandaten sei die Nutzung digitaler Akten längst Gewohnheit: „Die sind elektronisch längst drei Schritte weiter als die Justiz“. Ein anderer: „Wir haben nicht gemerkt, wie sich die IT-Welt verändert hat“.


Ein Kritikpunkt bestand darin, dass das Rechtswesen zu sehr daran festhalte, Prinzipien der Papier-Welt in die elektronische Welt zu übertragen, etwa mit der Transformation der Unterschrift zur digitalen Signatur. „Aber wir sollten viel öfters fragen: Brauchen wir das eigentlich?“, war eine Stimme in der Debatte. Wenn es doch gebraucht werde, dann stelle sich Option einfacherer Verfahren. Nicht die Festlegung konkreter IT-Techniken bis ins Detail müsse das Ziel sein, sondern die übergreifende „Definition von Schutz- und Verfahrenszielen“. Das vergrößere auf der Handlungsebene den Spielraum. In Österreich habe man nach dieser Devise modernisiert: „Die sind eben pragmatischer“. In Deutschland walte das Bedenkenträgertum, mit dem Effekt: „Wir sind heute um fünf Jahre zu spät“. E-Justice müsse jetzt „eindeutig einen Zahn zulegen“.


Die Gegenrede hob hervor, dass die Justiz generell von einem „Strukturkonservatismus“ geprägt sei. Da verwundere es nicht, wenn die Gesellschaft in der IT-Welt schneller sei als das Rechtswesen. Es müsse andererseits nicht alles, was technisch möglich sei – verwiesen wurde auf Möglichkeiten des Open Access -, auch in der Justiz Anwendung finde.

Konsens bestand in der Abschlußrunde, dass die Akteure im Bereich E-Justice unter Einbeziehung von Partnern auch außerhalb der Justiz die Anstrengungen zur IT-gestützen Modernisierung verstärken und beschleunigen sollten. „Wir müssen das Tempo forcieren“, lautete ein Statement.


Manfred Ronzheimer für InnoMonitor Berlin-Brandenburg

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Bitte beachten Sie auch:

20.09.2011
Berliner E-Government-Gesetz in Vorbereitung
Der erste Tag der Xinnovations in der Humboldt-Universität

http://www.innomonitor.de/index.php?id=132&be=2897

 

 

 

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