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Über den Tellerrand

26.03.2016

Über den Tellerrand

Diskussion zur Berliner Ernährungspolitik im August-Bebel-Institut

Kommunale Ernährungspolitik wird in den Städten zu einem Thema, das immer mehr Menschen interessiert und an dem sie aktiv mitwirken wollen. Über die Situation in Berlin informierte am 24. März, passenderweise am Gründonnerstag vor Ostern, für die Christen der Tag des Abendmahls, eine Veranstaltung im August Bebel-Institut neben der Zentrale der Berliner SPD in der Müllerstraße im Wedding (3). Referenten waren : Beatrice Walthall (Soziologin und Humangeographin an der Humboldt-Uni Berlin, AG Stadt & Ernährung) sowie Udo Tremmel (Soziologe, Berliner Ernährungsrat und Forum Gutes Essen Berlin und ehrenamtlich bei Slow Food).

(Foto: Walthall, Tremmel, Bebel, v.l.n.r - MR)

Hintergrund der Veranstaltung war der vom Land Berlin im Oktober 2015 in Mailand gemeinsam mit 100 weiteren Städten unterzeichnete »Urban Food Policy Pact«, der zu einer nachhaltigen kommunalen Ernährungspolitik verpflichtet. Leitfragen für die ABI-Diskussion waren: Warum sollte sich die Stadtentwicklung mit »Ernährung« beschäftigen? Welche Möglichkeiten haben Bürger in den Städten, ihre lokalen Ernährungssysteme zu reformieren? Was tun andere Städte für eine zukunftsfähige städtische Lebensmittelversorgung?

Tremmel stellte dar, dass es in Berlin derzeit zwei Aktivitätslinien gibt. Vor einem knappen halben Jahr wurde von der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz das „Forum Gutes Essen" ins Leben gerufen, dem rund 30 Vertreter aus Lebensmittelwirtschaft, Erzeugern, Handel, Tourismus, Bildung, Gesundheit etc beteiligt sind. Es sollen Leitlinien für besseres Essen (etwa in Schulen und Kantinen) und Lebensmittelversorgung erarbeitet werden. Berlins Image als „spannende Stadt fürs Essen" soll gestärkt werden. Parallel dazu haben sich die zivilgesellschaftlichen Akteure in einem „Ernährungsrat" zusammengefunden, dem am 22. April auch seine formelle Gründungsveranstaltung (4) hat (im ZKU, Siemensstr. 27, von 17 bis 21 Uhr, (1). Eine weitere Veranstaltung gibt es am 30. April in der Markthalle IX (4). Dieser Prozess ist laut Tremmel schon seit längerem im Gang, ein Visionspapier ist in Arbeit, es gibt Kontakte zu gleichartigen Gruppen in Köln, Hamburg, Freiburg und anderswo. „Es ist eine neue Bewegung, die die Umstände ihrer Ernährung selbst in die Hand nehmen will."

Ein erstes, zweiseitiges Papier des Ernährungsrates Berlin vom März 2016, das bei der Veranstaltung auslag, nennt als „Zielvorstellungen" diese Punkte: (2)
Ernährungssouveränität als Grundlage
Regionale Landwirtschaft und Verarbeitung
Umweltschutz
Vielfalt auf allen Ebenen
Faire Marktstrukturen
Alternative Stadt- und Regionalplanung
Aus- und Weiterbildung
Gerechtigkeit
Demokratie

Doktorandin Walthall arbeitet am Center for metropolitan Studies an ihrer Doktorarbeit über den Zusammenhang von Stadtentwicklung und Food Bewegung und hat dazu auch Städte in USA und Kanada besucht. Sie hat auch die Arbeitsgruppe „Stadt und Ernährung" mitgegründet, die Wissen zusammenführen und Umsetzungsprozesse anstoßen will, um das „Thema Ernährung in die Stadt zurückzuholen". Dabei wolle man auch „über den Tellerrand hinausschauen", sprich: aus der Stadt auf die regionale und die globale Vernetzung schauen. Als Berliner Beispiel nannte sie den „LebensMittelPunkt Spandau", eine neue Initiative für Klimaschutz und Ernährung.

Von den großen Megatrends, die die Ernährung in den Städte prägen, stellte Walthall den historischen an die erste Stelle: Städte waren immer Orte des Konsums, des Verbrauchs. Hinzu kommt die Urbanisierung, die immer mehr Menschen in die Städte zieht, und das das sich ausbreitende Versorgungsgeflecht, das über die regionale Zulieferung immer mehr Konsumartikel aus der globalen Sphäre heranführe. Eine weitere Rahmenbedingung sei, dass immer mehr Funktionen vom Staat an den Merkt abgegeben werden. Zwar hat die Ernährungssicherheit zugenommen, aber die ökologische Tragfähigkeit der Lebensmittelproduktion gerät in einen kritische Zustand. Der Lösungsansatz kann in einer weiteren Eigenschaft der Städte gefunden werden: sie waren immer Orte der Kreativität, des Umdenkens, des Wandels. So kann es auch beim Essen passieren.

Eine Annäherung ist der integrative Ansatz, bei dem viele Komponenten zusammen gebunden werden. „Food Urbanism" (Buchtitel) heißt ein Ansatz, der sich in USA und Frankreich verbreitet. Auch „Food Systems" in Verbindung mit der Stadtplanung. Gezeigt wurde ein Bild, das Essen als ein Prisma darstellt, in dem weißes Licht in ein Farbspektrum aufgespalten wird, um deutlich zu machen, in wieviel Lebensbereichen Ernährung von Bedeutung ist: Kultur, Identität, Soziales, Gesundheit, Wirtschaft, Recht, Politik. Von Tim Lang kam das Zitat: „Essen ist ein Symbol dafür, wie wir uns und unsere Gesellschaft organisieren".

Der zweite, mehr Praxis-gelagerte Ansatz befasst sich mit lokalen und regionalen Absatzmodellen. Dazu zählen neue Modelle der „Solidarischen Landwirtschaft" (CSA: Community supported agriculture), wie z.B. die Initiative „SpeiseGut" in Spandau oder bereits acht CSA-Gruppen mit Höfen in Brandenburg. Neuer Trend ist die Spezialisierung auf bestimmte Lebensmittelgruppen wie Milch, Fleisch, Gemüse. So gibt es Mitgliedsorganisationen für die Fischerei, Bäckerei wie auch in Berlin die gemeinschafts-unterstützte „Vagabund Brauerei". CSA ist für die Städter nicht nur Bestellen und Verzehr von Nahrungsmitteln, sondern auch Anpacken bei ihrer Herstellung. „Drei mal im Jahr geht man bei CSA aufs Feld, um in der Pflanz- und Erntesaison zu helfen", berichtete die Referentin. „Aber jede CSA-Gruppe funktioniert anders".

Manfred Ronzheimer

(1) http://www.ernaehrungsratschlag.de/ein-zukunftsfaehiges-ernaehrungssystem/

(2) Unsere Vision zum Download (168KB)
http://www.ernaehrungsratschlag.de/wp-content/uploads/2016/03/Ernaehrungsrat_Berlin_Vision_web.pdf

(3) http://www.wachstum-im-wandel.de/kalender/111.wie_isst_die_stadt.html

(4) http://august-bebel-institut.de/wie-isst-die-stadt-ein-programm-in-und-mit-der-markthalle-neun/
Wie is(s)t die Stadt? - Ein Programm in und mit der Markthalle Neun
Sa 30. April 2016, 16.30 -20
Uhr 16.30 Uhr Rundgang:  IX, Neun, neu: Wie sich die Eisenbahnmarkthalle in Kreuzberg neu erfand.
Mit: Christoph Albrecht (Diplom-Volkswirt, ehem. Sprecher der Anwohnerinitiative)?
18 Uhr Maibockanstich mit Dilek Kolat (Bürgermeisterin von Berlin und Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen) und Johannes Heidenpeter (Heidenpeters Craft Bier)
19 Uhr Gespräch mit Ina Czyborra (Mitglied im Abgeordnetenhaus / Freunde der Domäne Dahlem e.V.) , Willi Lehnert (Ökonauten e.G.) u.a.
In Kooperation mit der Markthalle Neun und Slow Food Berlin
Ort: Markthalle Neun, Eisenbahnstraße 42/43, 10997 Berlin
Anmeldung erbeten [B31]


NN1782

 

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