Nachhaltigkeit beginnt in den Töpfen
30.09.2015
Nachhaltigkeit beginnt in den Töpfen
In Berlin startete die neue Plattform "Bildung für Nachhaltige Entwicklung"
Im Alexander von Humboldt-Saal des neuen Forschungsministeriums am Berliner Spreeufer fand gestern die konstituierende Sitzung der "Nationalen Plattform Bildung für Nachhaltige Entwicklung" statt. Wie passend! Und dennoch erwähnte keiner in der Eröffnungsrunde, welchen Anteil dieser Humboldt am Projekt hatte (vielleicht zu wenig historische Bildung an dieser Stelle). Humboldts "Kosmos"-Vorlesungen Mitte des 19. Jahrhunderts sind bis heute zu recht legendär. Und besonders: Es war ein nachhaltiges Wissen, das dem Volke präsentiert wurde. Was für ein Ansatz, damals schon! Eine gute Wahl, diese Namensgebung im BMBF-Bau. Die Veranstaltung führte die 39 Mitglieder der Plattform erstmals zusammen. (Liste unten) (1) Zum Auftakt gab es drei perspektivische und bilanzierende Reden aus Politik und Wissenschaft. Forschungsministerin Wanka sagte nach Zusammenfassung in der Pressemitteilung ihres Ministeriums (2)
"Wir wollen die Generation sein, die den Wandel zu einer nachhaltigen
Gesellschaft schafft", erklärte Ministerin Wanka. 2015 sei das entscheidende
Jahr, um Globalisierung und Verantwortung zu verknüpfen. "Die Unterzeichnung der
Agenda 2030 letzte Woche in New York und der Klimagipfel Ende November stellen
die richtigen Weichen, um nachhaltige Entwicklung voran zu bringen. Das gilt
ganz besonders im Bildungsbereich. Nur durch Bildung für nachhaltige Entwicklung
schaffen wir einen Wandel."
Es gebe bereits viele erfolgreiche Initiativen,
wo Nachhaltigkeitsbewusstsein entwickelt werde. "Wir wollen von guten
Einzelinitiativen zu verbindlichen Strukturen kommen, um in allen
Bildungsetappen nachhaltige Entwicklung stärker zu verankern." Das gelte von der
frühkindlichen Bildung über die Schule und Hochschule bis zur Berufsausbildung
und Erwachsenenbildung. So wird das BMBF gemeinsam mit dem Bundesinstitut für
Berufsbildung (BIBB) die Entwicklung nachhaltiger Lehr- und Lernkonzepte in der
dualen Berufsausbildung in den kommenden drei Jahren mit insgesamt sechs
Millionen Euro fördern. "Erstmals werden wir damit auch die Kaufmännische
Berufsausbildung in die Nachhaltigkeitsförderung aufnehmen", so die
Bundesbildungsministerin.
Einmal im Jahr lädt das BMBF künftig alle Akteure
zu einem großen Agendakongress nach Berlin ein. "Wir wollen die breite Expertise
der Zivilgesellschaft einbinden", sagte Ministerin Wanka. Damit nehme
Deutschland bereits jetzt international eine Vorreiterrolle in der Umsetzung der
ambitionierten UNESCO-Ziele ein. (2)
Ganzheitliche Ansätze und dauerhafte Strukturen
In ihrer Ansprache unterstrich die Ministerin, dass es nach den abgelaufenen UNESCO-Dekade darum gehe, die gemachten Erfahrungen zu "ganzheitlichen Ansätzen" weiter zu entwickeln, die es ermöglichen, Nachhaltigkeit jenseits des kognitiven Wissens auch "im Alltag zu leben". Die neue Phase WAP solle dazu dienen, in Deutschland "dauerhafte Strukturen" für BNE aufzubauen. Und zwar in der gesamten Bildungskette, vom "Haus der kleinen Forscher" bis hin zur Lehrerausbildung in den Hochschulen. Dabei vergas die Ministerin nicht zu erwähnen, dass ihr Haus gerade 500 Mio in die Qualifizierung der Lehrerbildung investiert, aber sie wusste ad hoc nicht zu sagen, ob darunter auch BNE-Module sind. Ihre Staatssekretärin Quennet-Thielen, die auch als Vorsitzende der Plattform fungiert, konnte ergänzen: "Doch, ein bisschen ist drin". Wanka erwähnte besonders die Rolle der Volkshochschulen wie auch der Jugendherbergen, der beruflichen Bildung ("da passiert sehr viel in Sachen Nachhaltigkeit") bis hin zur Schule mit ihrem Lieblingsfach "Alltagswissen", früher Hauswirtschaft.
Im Ausblick hob die Ministerin die für Februar 2016 angesetzte große Konferenz zur "Zukunftsstadt" hervor, die Ideen und Konzepte für Nachhaltigkeit im städtischen Bereich thematisiere. Einige der insgesamt 52 während der UN-Dekade ausgezeichneten Städte hätten dort auch einen Auftritt. Darunter Gelsenkirchen, wo BNE mit Partizipation und Armutsbekämpfung gekoppelt wurde. Eine umfassende Darstellung des weiterem Kurses aus Sicht des BMBF enthält dieser Text zur WAP-Umsetzung: "Umsetzung des Weltaktionsprogramms "Bildung für eine nachhaltige Entwicklung" in Deutschland; Vom Projekt zur Struktur - wie wir Bildung für nachhaltige Entwicklung stärker und breiter aufstellen" (4)
Zum Zeitplan heißt es dort: "Ziel ist, einen detaillierten Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung des WAP in Deutschland zu erarbeiten. Der Entwurf soll auf dem ersten Agendakongress 2016 diskutiert und anschließend von der Plattform beschlossen werden. Im ersten Halbjahr 2017 wird Deutschland gemäß den Vorgaben der Roadmap den ersten Bericht zur Umsetzung des WAP vorlegen, 2019 eine große Ergebniskonferenz ausrichten, den Schlussbericht vorstellen und aus ersten Befunden der begleitenden Evaluation Handlungsvorschläge und Strategien für die Zeit ab 2020 zur Diskussion stellen." (4)
Aufrüsten, aber richtig
Verena Metze-Mangold, die Präsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission, zitierte in der Eröffnungsveranstaltung statt Humboldt den Säulenheiligen ihrer Heimatstadt Frankfurt/Main, Goethe, mit den Worten: "Das Wichtigste sind die Bezüge". In der Nachhaltigkeit müssen vieles zusammen gedacht werden, und die soeben von der UN-Vollversammlung beschlossenen SDGs der "Agenda 2030" forderten uns auf, "diese Bezüge auch zu leben". Education, zitierte sie Madela, "is the most powerful weapon to change the world". (Aufrüstung also, aber an der richtigen Stelle, Kommentar von mir). Metze-Mangold nannte dann fünf prioritäre Handlungsfelder für BNE, die aus internationalen Konsultationsprozessen destilliert wurden und in der UNESCO-Roadmap zur Umsetzung des Weltaktionsprogramms (WAP) BNE niedergelegt sind (3, Seite 15): 1 Politische Unterstützung, 2 Ganzheitliche Transformation von Lehr- und Lern-Umgebungen, 3 Kompetenzentwicklung bei Lehrenden und Multiplikatoren, 4 Stärkung und Mobilisierung der Jugend, 5 Förderung nachhaltiger Entwicklung auf lokaler Ebene.
"Wir sind nicht weit genug gekommen"
Gerhard de Haan, Erziehungswissenschaftler an der FU, gab einen interessanten Rückblick auf die zehn Jahre der UN-BNE-Dekade, die er an maßgeblicher Stelle mit geleitet hatte. Er begann mit der Beschreibung einer großen Anzeige des Chemie-Konzerns Hoechst AG, die am 7.10.1994 in der FAZ erschien. (Leider war es der Veranstaltungsregie nicht möglich, eine Abbildung dieser Anzeige auf die beiden Leinwände des Sitzungssaals zu werfen). Zu sehen ist dort kleiner Junge, mit den Worten darüber: "Sustainable Development - in 20 Jahren wird er wissen, was das heißt". Die 20 Jahre sind jetzt rum, und die Hoechst AG ist verschwunden, kein tolles Erfolgsbeispiel nachhaltigen Chemiewirtschaftsmanagements. (Ein schönes Opening, zu dem ich noch vieles schreiben könnte)
De Haans Botschaft: Ein internationales Monitoring hat der Dekade zwar "Erfolg bescheinigt - aber wir sind nicht weit genug gekommen". Als Belege führte er unter anderem das Greenpeace-Umweltbarometer von 2012 an. In ihm wurde ermittelt, dass weniger als 50 % der Gymnasiasten in Deutschland noch nie etwas von Nachhaltigkeit gehört hatten. In der Tat kein großer Bildungserfolg. Am Basiswissen muss noch viel gearbeitet werden, wenn die Hälfte der Bürger der Auffassung sind: "Der Klimawandel ist eine Folge des Ozonlochs". Auch die Umweltbewusstseinsstudie des UBA konnte de Haan mit den Worten zusammen fassen: "Nachhaltigkeit wird von der Bevölkerung mehr gefühlt als praktiziert". Mehr als ein Drittel der Bürger glaubt, sie kauften als Verbraucher nachhaltige Produkte ein - so viel sidn gar nicht auf dem Markt. Der Wissenschaftler hatte noch einige Beispiele, wie Wunsch und Realität im Nachhaltigkeits-Deutschland auseinander. "Nachhaltigkeit beginnt in der Töpfen", sagt der Professor zur Überraschung aller. Hoppla, ein Versprecher, aber so falsch ist das gar nicht, ist die amüsiert Reaktion. Auch nach zehn Jahren Dekade stehe man weiter vor großen BNE-Aufgaben. De Haan fasste sie in drei Punkten zusammen: 1 Curricula, das Thema muss konkret in den Bildungsplänen von Ländern und Schulen verankert werden, 2 Die Lücken in der Bildungskette schließen, vor allem in der hochschulischen Ausbildung der Lehrkräfte gebe es "noch große Defizite", 3 am wichtigsten: "Wir brauchen handlungsleitendes Wissen - das ist das Entscheidende".
Manfred Ronzheimer
(1) http://www.bmbf.de/pubRD/Mitglieder_der_Nationalen_Plattform_Stand_22.09.2015.pdf
(2)
http://www.bmbf.de/press/3859.php
(3)
http://www.bmbf.de/pubRD/2015_Roadmap_deutsch.pdf
(4)
http://www.bmbf.de/pubRD/WAP-Umsetzung_BNE.pdf
*
Foto: © BMBF/Hans-Joachim Rickel
Die Mitglieder der Nationalen Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung
Vorsitzende: Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
Dr. Heinrich Bottermann, Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt
(DBU)
Peter Clever Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)
Dr. Antje von Dewitz,
Geschäftsführerin der Vaude Sport GmbH & Co. KG
Annette Dieckmann,
Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Natur- und Umweltbildung - Bundesverband e.
V. (ANU)
Prof. Dr. Hans Diefenbacher, Beauftragter für Umweltfragen des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
Georg Fahrenschon, Präsident
des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes e. V. (DSGV)
Jochen Flasbarth,
Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit (BMUB)
Prof. Dr. Jetta Frost, Vizepräsidentin der
Universität Hamburg
Johannes Geibel, Vorstandsvorsitzender des netzwerk n e.
V.
Tanja Gönner, Vorstandssprecherin der Deutschen Gesellschaft für
Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ)
Prof. Dr. Michael Göring,
Vorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen e. V.
Prof. Dr.
Cornelia Gräsel, Bergische Universität Wuppertal
Elke Hannack,
Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)
Erich
Harsch, Vorsitzender der Geschäftsführung der dm-drogerie markt GmbH & Co.
KG
Andreas Jung MdB, Vorsitzender des Parlamentarischen Beirates für
nachhaltige Entwicklung (PBnE)
Prälat Dr. Karl Jüsten, Leiter des
Kommissariats der deutschen Bischöfe - Katholisches Büro in Berlin
Dr. Ralf
Kleindiek, Staatssekretär im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend (BMFSFJ)
Roland Krämer, Vertreter der Umweltministerkonferenz (UMK),
Staatssekretär im Ministerium für Umwelt und Verbraucherschutz des
Saarlandes
Dr. Dietmar Kress, Vertreter des Bündnis ZukunftsBildung,
Bereichsleiter Aktionsnetz, Greenpeace e. V.
Uwe Lübking, Vertreter des
Bundesverbandes der kommunalen Spitzenverbände, Beigeordneter des Deutschen
Städte- und Gemeindebundes (DStGB)
Dr. Verena Metze-Mangold, Präsidentin der
Deutschen UNESCO-Kommission (DUK)
Klaus Müller, Vorstand des
Verbraucherzentrale Bundesverbands e. V. (vzbv)
Prof. Dr. Georg
Müller-Christ, Universität Bremen
Dominik Naab, Stellvertretender
Vorsitzender des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR)
Dr. Simon
Ramirez-Voltaire, Vorstandsmitglied des Verbandes Entwicklungspolitik und
Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO e.
V)
Katherina Reiche, Hauptgeschäftsführerin des Verbandes kommunaler
Unternehmen e. V. (VKU)
MinDir Dr. Jörg Schmidt, Vertreter der
Kultusministerkonferenz (KMK), Amtschef des Ministeriums für Kultus, Jugend und
Sport, Baden-Württemberg
Holger Schwannecke, Generalsekretär des
Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH)
Thomas Silberhorn MdB,
Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
Prof. Dr. Rita Süssmuth,
Ehrenpräsidentin des Deutschen Volkshochschulverbandes (DVV)
Marlehn Thieme,
Vorsitzende des Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE)
Michael Töpler,
Vorsitzender des Bundeselternrates
Prof. Sebastian Turner, Herausgeber, Der
Tagesspiegel
Prof. Dr. Wilhelm-Günther Vahrson, Präsident der Fachhochschule
für nachhaltige Entwicklung Eberswalde
Annabelle Wischnat, Vorstandsmitglied
im Alumni Verein "kulturweiter - bilden, vernetzen, engagieren e. V."
Gudrun
Wolters-Vogeler, Vorsitzende des allgemeinen Schulleitungsverbandes Deutschlands
e. V. (ASD)
Wissenschaftlicher Berater: Prof. Dr. Gerhard de Haan, Leiter des Instituts
FUTUR an der Freien Universität Berlin
Berater für internationale Fragen:
Minister a. D. Walter Hirche, Vorsitzender des Fachausschusses Bildung der
Deutschen UNESCO Kommission (DUK)
*
Schlußbemerkung in eigener Sache:
Wenn Sie bis hierhin gelesen
haben, dürfen Sie noch dieses erfahren: Dieser Text ist ohne bezahlte
Beauftragung entstanden. Ich habe ihn als freier Journalist, der seinen
Lebensunterhalt von bezahlten Aufträgen finanzieren muss, im Modus der
Selbstausbeutung geschrieben. Das geschieht aber nicht, weil ich diesen Modus
liebe (im Gegenteil: ich möchte ihn dringend verändern, aber das ist eine andere
Diskussion), sondern weil ich das Thema für wichtig halte und sein
Hinüberbringen in eine Öffentlichkeit, in der andere von dem Thema erfahren. Das
ist ein interesse-geleiteter Journalismus, kein pekuniär-verwertungsgeleiteter
Journalismus. Alle, die sich freuen, jetzt wieder mal was gratis gelesen zu
haben, sollten sich ein schlechtes Gewissen machen, wenn sie nicht endlich
anpacken, dauerhafte Strukturen aufzubauen, die Journalisten mit solch einem
Impetus ein Überleben in ihrem Beruf ermöglichen. MR