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Strategien für mehr Beschäftigung in Berlin

18.06.2009

Strategien für mehr Beschäftigung in Berlin

Schlussfolgerungen und Empfehlungen der Studie des DIW Berlin "Neue Wachstumschancen für Berlin"

- Dokumentation -

Fakten und Trends

Berlin wies nach der Vereinigung über lange Zeit eine im nationalen wie internationalen Vergleich mit Städten ähnlicher Größenordnung unterdurchschnittliche Dynamik der wirtschaftlichen Aktivitäten und in der Produktivität auf. Dies kann angesichts der Entwicklung während der Zeit der Teilung und der daraus resultierenden Ausgangsposition zu Beginn der 1990er Jahre nicht verwundern. Erst zu diesem Zeitpunkt ist Berlin praktisch in den Wettbewerb mit den etablierten Wirtschaftszentren eingetreten. Die Schwäche in der überregionalen Konkurrenz wirkt sich dämpfend auf den gesamten Wirtschaftskreislauf der Stadt aus. Sie hat gravierende Auswirkungen auf die Einkommens- und Beschäftigungssituation der Bevölkerung.

Auch in Bezug auf die Struktur der wirtschaftlichen Aktivitäten hat Berlin als Newcomer im ökonomischen Wettbewerb der Metropolen noch keinen der Größe der Stadt entsprechenden Platz gefunden. Das Gewicht wissensintensiver überregional ausgerichteter Branchen ist noch relativ gering, und auch als Standort unternehmerischer Führungsfunktionen weist Berlin im regionalen Vergleich nach wie vor erhebliche Defizite auf.

Inzwischen hat die Stadt jedoch eine Trendwende erreicht. Sie bleibt im Wachstum der Wirtschaft nicht mehr hinter anderen Großstädten und der Entwicklung im nationalen Durchschnitt zurück. Bei der Beschäftigungsentwicklung schneidet Berlin in jüngster Zeit sogar überdurchschnittlich ab. Zudem zeigen sich deutliche Ansätze für ein neues wirtschaftliches Profil und für eine neue Dynamik der Stadt. Sie wird offenbar getragen von Unternehmen und Arbeitskräften, für die die Hauptstadtfunktion sowie das wissenschaftliche, kulturelle und generell urbane Potenzial Berlins wichtige Standortfaktoren sind.

Aus der Beobachtung der längerfristigen wirtschaftsstrukturellen Entwicklungen ist eine eindeutige Stabilisierung der Industrieanteile über alle Regionen der EU zu beobachten. Dabei sind zwar die Anteile der Industrie in den Metropolen geringer, aber auch hier erweist sich die Industrie immer mehr als stabiler Wirtschaftsfaktor. Für Berlin hingegen belegen Modellrechnungen, dass der transformationsbedingte Zusammenbruch der Industrie zu einer übermäßigen Deindustrialisierung der Stadt geführt hat. Inzwischen wird jedoch eine Aufwertung der Aktivitätsstruktur der Berliner Industrie im Vergleich den anderen deutschen Großstädten erkennbar.

Analysen auf der Basis von Unternehmensmikrodaten für Deutschland zeigen sogar, dass am Standort Berlin der industrielle Modernisierungsprozess besonders stark ausge- prägt ist. Das hohe Modernisierungstempo hat aber bislang nicht ausgereicht, die Berliner Industrie auch im Durchschnitt besonders leistungsfähig und wachstumsstark werden zu lassen. Bei technologie- und wissensintensiven Aktivitäten in der Industrie und in den meisten privatwirtschaftlichen Dienstleistungen weist die Region Berlin im europäischen Vergleich zwar immer noch beträchtliche Defizite auf, der Abstand zu den anderen Hauptstadtregionen hat sich aber verringert. Ein ganz ähnliches Bild zeigt sich im Vergleich der Stadt Berlin mit einigen anderen europäischen Hauptstädten, für die Daten zur Verfügung stehen - London, Brüssel, Wien und Prag.

Potenziale und Perspektive

Die Ausstattung mit Faktoren, die das langfristige Wachstumspotential bestimmen, ist in Berlin zusammengenommen durchaus vergleichbar mit der in ökonomisch führenden Regionen Europas. Zu diesen weitgehend immobilen und polyvalenten (breit wirtschaftlich verwertbaren) Potentialfaktoren zählt die räumliche Ballung von Bevölkerung, die wirtschaftsgeografische Lage und die Infrastrukturverfügbarkeit in den Bereichen Verkehr, Kultur, Wissenschaft oder Bildung.

Die Hülle aber, die durch solche Potentialfaktoren bestimmt wird, füllt sich nur langsam mit ökonomischen Aktivitäten. Zwar scheint der Wendepunkt nach der Transformationskrise geschafft, aber immer noch liegt die Wirtschaftleistung Berlins weit unter dem Potential. Es fehlt an mobilen, spezialisierten Produktionsfaktoren, die die Potentialfaktoren Berlins nutzen und damit das Produktionspotential auslasten. Zu diesen Auslastungsfaktoren zählen insbesondere privates Sach- und Humankapital. Im Vergleich zu anderen großen Agglomerationen bestehen hier noch große Defizite. Lediglich in bestimmten Bereichen der Medien- und Kulturwirtschaft besitzt die Stadt hohe Anziehungskraft auf diese Produktionsfaktoren.

Zwar zählt Berlin zu den beliebtesten Wohnstandorten unter jungen gut ausgebildeten Menschen, aber ohne durch privates Sachkapital entstandene Beschäftigungsmöglichkeiten auf spezialisierten Arbeitsplätzen bleiben auch sie nur ein bislang ungenutztes Potential.

Dass Berlin in den vergangenen Jahren das hohe Niveau an Potentialfaktorausstattung trotz schwachen Wirtschaftskraft gehalten werden konnte, lag an der besonderen Unterstützung Berlins - wie der neuen Bundesländer insgesamt - im Rahmen des deutschen Finanzausgleichssystems.

Ohne die Zuweisungen und Zuschüsse der westdeutschen Länder und des Bundes hätte sich die Stadt weder das breiten Spektrum an Infrastruktur noch die Transferzahlungen zur Verhinderung von Bevölkerungsverlusten leisten können. Die Rückführung der Zahlungen an Berlin im Rahmen des Solidarpakts II sowie die zugesagte weitere Reduzierung der Verschuldung im Landeshalt lassen eine andauernde Finanzierung der Lücke zwischen den Potentialfaktoren und der Wirtschaftskraft im bisherigen Ausmaß nicht zu. Das heißt, wenn es Berlin nicht in absehbarer Zeit gelingt, seine Potentialfaktorausstattung zu großen Teilen selbst zu finanzieren, wird langfristig das Wachstumspotential Berlins unter dem anderer Agglomeration in Deutschland und Europa sinken. Entsprechend gilt es für die Politik, den gegenwärtigen Aufholprozess deutlich zu beschleunigen.

Zur Veranschaulichung der wirtschaftspolitischen Herausforderung ist zunächst die Differenz zwischen Potential und Auslastung in Berlin durch Berechnung der gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungslücke konkretisiert worden. Grundlage der Berechnung sind dabei die Relationen zwischen der Anzahl der Arbeitsplätze und der Einwohnerzahl (Beschäftigtenbesatz) für Berlin und die wichtigsten Vergleichsstädte (Hamburg, Wien) bzw. Vergleichsregionen (Raumordnungsregionen Köln und München).

Berlin weist dabei 2006 den geringsten Beschäftigtenbesatz auf. Der Besatz in Köln und Wien liegt 10 % bis 20 % darüber. Der Abstand Berlins zu Hamburg und München beträgt sogar mehr als 30 %. Berechnet man den Durchschnitt der Vergleichsgebiete im Beschäftigtenbesatz und bezieht diesen Wert auf die Bevölkerungszahl Berlins leitet sich eine mittlere Beschäftigungslücke von 370.000 Arbeitsplätzen ab. Berlin müsste also seine Beschäftigtenzahl von 1.572.000 im Jahr 2006 um 370.000 steigern um mit 1.942.000 Beschäftigten eine durchschnittlichen Beschäftigtenbesatz zu erreichen. Für die wirtschaftspolitisch Handelnden entscheidend ist aber auch, welche Art von Arbeitsplätzen fehlt.

Auf welche Typen von Berufen, Qualifikationen und Clustern sollte sich also die Wirtschaftspolitik der Stadt konzentrieren? Die einzelnen Analysen weisen dabei eindeutig auf die Schlüsselrolle von humankapitalintensiven Arbeitsplätzen in wissens- und technologieorientierten Clustern für die Wirtschaft moderner Metropolen hin. Perspektive haben dabei in einer Metropole wie Berlin solche Cluster nicht nur aus dem Dienstleistungsbereich, sondern gerade auch in der Industrie. Mehr noch, ohne Industrie dürfte ein rascher Aufholprozess Berlins nicht möglich sein. In der Metropole Berlin muss Industrie Zukunft haben.

Auf der Basis von Vergleichsanalysen zur Entwicklung der Industrieanteile in den europäischen Regionen lässt sich für deutsche Regionen ein stabiler Wertschöpfungsanteil der Industrie von mehr als 20 % ableiten. Der Industrieanteil der Hauptstädte liegt dabei europaweit allerdings durchschnittlich um gut 7 Prozentpunkte niedriger. Für die deutsche Hauptstadt leitet sich demnach ein Erwartungswert für den Wertschöpfungsanteil der Industrie von rund 13 % ab. Berücksichtigt man sektorale Produktivitätsunterschiede entspräche dies einem Be- schäftigtenanteil der Industrie in Berlin von nahe 11,5 %. Tatsächlich aber lag diese Anteil 2006 nur bei gut 8 %.

 

Abbildung 1
Beschäftigungslücke Berlins im Industrie- und Dienstleistungsbereich

Aus den Berechnungen zur gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungslücke und den Erwartungswerten zum Industrieanteil lässt sich unmittelbar das Arbeitsplatzdefizit Berlins im Industriesektor und den Dienstleistungsbereichen quantifizieren (Abbildung 1). Danach fehlen in der Berliner Industrie 90.000 Arbeitsplätze. In der Summe der Dienstleistungssektoren beziffert sich die Beschäftigungslücke auf 280.000 Arbeitsplätze. Die Stadt braucht also beides: sowohl mehr Industriejobs als auch mehr Dienstleitungsarbeitsplätze.

Das relative Arbeitsplatzdefizit Berlins ist allerdings bei der Industrie ungleich größer. Die Differenz zwischen dem Erwartungswert von 222.000 Beschäftigten und dem Bestand 2006 in Höhe von 131.000 Beschäftigten weist eine Lücke von rund 70 % aus. In der Summe der Dienstleistungssektoren beträgt die Beschäftigungslücke "nur" knapp 20%. Allein aufgrund dieser Relationen führt bei einer Strategie für mehr Arbeitsplätze in Berlin kein Weg an der Industrie vorbei.

Wege zur besseren Ausschöpfung der Potenziale Berlins

Der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen Regionen ist im Wesentlichen ein Wettbewerb um mobile Produktionsfaktoren, das heißt um Humankapital und Sachkapital. Zwischen diesen beiden Faktoren gibt es wechselseitige Beziehungen, die im Fall von Großstädten und Ballungsräumen besonders eng sind: Städte, die viele hoch qualifizierte Arbeitskräfte selbst hervorbringen und von außen anziehen, weisen nicht nur ein insgesamt hohes Humankapital auf, sondern verfügen auch über eine große Vielfalt von speziell qualifizierten Fachkräften. Dies ist einer der wichtigsten Standortfaktoren für technologie- und wissensorientierte Unternehmen, und die Ansiedlung solcher Unternehmen wiederum macht die Städte attraktiv für qualifizierte Arbeitskräfte.

In diesem Mechanismus, der mit zunehmender Wissensintensität der Wirtschaft immer bedeutender wird, liegt die Chance für Berlin, sein Entwicklungspotenzial besser auszuschöpfen und so das Aufholen gegenüber anderen Metropolen wesentlich zu beschleunigen. Bildungs- und Hochschulpolitik, Stadtentwicklungspolitik sowie Wirtschafts- und Ansiedlungspolitik setzen an unterschiedlichen Stellen dieses zirkulären Prozesses an - und alle drei sind erforderlich, um ihn in Gang zu bringen und in Schwung zu halten. Für den hier beschriebenen Zusammenhang zwischen Humankapital, Wirtschaftskraft und Lebensqualität finden sich in der jüngeren Arbeitsmarkt- sowie in der stadt- und regionalökonomischen Forschung überzeugende Belege. Weitestgehende Einigkeit besteht in der empirischen Literatur darüber, dass Bildung das individuelle Einkommen und die Produktivität der Beschäftigten erhöht.

Diese Befunde bedeuten indes auch, dass Einkommens- und Produktivitätsunterschiede zwischen Stadtregionen zu einem gewichtigen Teil durch Faktoren bestimmt werden, die nicht unmittelbar mit der Qualifikation der Beschäftigten zu tun haben, sondern aus Vorteilen der Ballung und der räumlichen Nähe resultieren. Diese Vorteile tragen wesentlich dazu bei, dass humankapitalreiche Regionen nicht nur ein hohes Niveau des Einkommens und der Produktivität aufweisen, sondern sich in der Tendenz auch durch ein überdurchschnittliches Wachstum dieser Größen auszeichnen.

Offenbar sind starke Kräfte wirksam, die dafür sorgen, dass die historisch einmal entstandene Struktur immer wieder reproduziert oder sogar noch weiter akzentuiert wird. Dem Bestand an Humankapital wohnt (ähnlich wie beim technologischen Wissen) eine Tendenz der Selbstverstärkung inne. Einer der dabei wirksamen Mechanismen basiert auf Wissen- und Humankapitalübertragungen im Arbeitsleben. Diese "Spillovers" führen dazu, dass über die privaten Erträge der Bildung hinaus gesellschaftliche Erträge entstehen.

Eine Stadt oder Region, die von solchen kumulativen Prozessen profitieren will, kann zwar durch eigene Bildungsanstrengungen zur Humankapitalentwicklung beitragen. Eine ambitionierte Bildungspolitik wird aber letztendlich nicht zum wirtschaftlichen Erfolg führen, wenn die Stadt als Lebensraum nicht attraktiv ist, denn gerade gut Ausgebildete sind räumlich mobil. Unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher Prosperität bedingen Bildungspolitik und auf Lebensqualität gerichtete Stadtentwicklungspolitik einander.

Ein wesentliches Element der Attraktivität einer Stadt für qualifizierte Arbeitskräfte ist ein entsprechendes Angebot an Arbeitsplätzen. Standortmarketing und Ansiedlungspolitik können erheblich zur Erhaltung, Ausweitung und strukturellen Veränderung des Bestands von Unternehmen und Arbeitsplätzen beitragen. Allerdings erscheint eine Sichtweise, die allein unternehmerische Standortentscheidungen ins Zentrum rückt und die Beschäftigung als davon abgeleitete Größe behandelt, immer weniger gerechtfertigt. Es gibt vielmehr empirische Hinweise darauf, dass die Wohnortwahl hoch Qualifizierter zumindest halb autonom ist:
"Increasing economic base activity, however, may not be synonymous with an effort to attract and retain business directly via tax and subsidy competition. Decisions on the part of skilled workers to locate in cities are semi-autonomous of those made by firms, and their calculus places great importance on multiple amenity features that cities can cultivate" (Markusen, Schrock 2006, 1319)

Das spezifische Angebot an öffentlichen Gütern wie Bildung und Kultur, die vielfältigen privaten und beruflichen Kontaktmöglichkeiten sowie das städtische Leben ziehen vor allem jüngere gut gebildete und an beruflichem Erfolg orientierte Menschen an. Viele Unternehmen, die solche Beschäftigte suchen, folgen dieser Entwicklung mit ihren Standortentscheidungen. Investitionen in die Attraktivität Berlins als Lebensraum sind vor diesem Hintergrund von mindestens ebenso großer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt wie Anstrengungen in der Bildungs- und Hochschulpolitik sowie der Wirtschafts- und Ansiedlungspolitik.

Präzisierungen der Berliner Wirtschaftsförderung

Der Vergleich standortpolitischer Ziele und Maßnahmen in Hamburg, Köln, München, Wien und Berlin hat gezeigt, dass zumindest die deutschen Referenzstädte stärker auf die Industrie setzen als Berlin. Dies mag zu einem Teil darin begründet sein, dass dort die industrielle Substanz größer und die Verflechtung des Wirtschaftszweigs mit anderen Teilen der Wirtschaft intensiver ist als hier. Hinzu kommt jedoch, dass die negativen Folgen einer schwindenden Industrie auf Beschäftigung und Einkommen früher erkannt worden sind als in Berlin. Insbesondere nach dem Zusammenbruch der IT-Branche zu Beginn dieses Jahrzehnts und im Gefolge des zunehmenden Anteils wenig verdienender Beschäftigter (und Selbstständiger) in großen Teilen der Dienstleistungswirtschaft ist die Industrie - genauer: das Verarbeitende Gewerbe - wieder stärker ins Blickfeld der Wirtschaftspolitik gerückt. Das gilt für das Land Hamburg ebenso wie die Städte Köln und München.

Mit Blick auf die begrenzte Zahl neuer Industriebetriebe wird vor allem die Pflege der ansässigen Unternehmen systematischer betrieben als in Berlin - eine Einschätzung, die durch die Befragung zum Standortverhalten bestätigt wird. Im Vordergrund stehen dabei Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, die Schaffung eines wirtschaftsfreundlichen Klimas und die Beteiligung der Unternehmen, der Verbände, inbesondere der Gewerkschaften bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Entwicklung der jeweiligen Wirtschaft. Auffallend sind auch die Unterschiede im Standortmarketing: Während Berlin sich auf die Präsentation als Dienstleistungszentrum konzentriert, nimmt die Industrie in Hamburg, Köln und München einen wichtigen - man könnte sagen: insgesamt gleichwertigen - Platz in der Standortwerbung ein. Besonders wirkungsvoll wird die Stellung der Industrie innerhalb des städtischen Wirtschaftsgefüges mit dem von Wirtschaft und Landesregierung gemeinsam entwickelten Masterplan Industrie in Hamburg kommuniziert.

Bei einem Vergleich der Technologiepolitik schneidet Berlin mit seiner kohärenten Innovationspolitik gut ab. Kritisch könnte angemerkt werden, dass es nicht in allen Kompetenzfeldern gelungen ist, Ungleichgewichte zwischen Forschungskapazitäten und Angebot an industriellen Partnern - etwa durch Ansiedlung zusätzlicher Betriebe - auszugleichen. Außerdem ist der Berliner Ansatz auf einen vergleichsweise geringen Teil der Industrie beschränkt; an den anderen Standorten wird ein größeres und breiter gestreutes Segment der regionalen Wirtschaft erreicht.

Identifikationsfähiges Leitbild

In Berlin ist es bisher nicht gelungen, die verschiedenen - teilweise nur für die Stadt, teilweise auch für Berlin-Brandenburg entwickelten - Ansätze für ein Leitbild so zu bündeln bzw. aufeinander abzustimmen, dass ein transparentes und der Öffentlichkeit vermittelbares Gesamtbild entsteht. Insgesamt fehlt ein ressortübergreifender öffentlicher Diskurs, der einen möglichst großen Teil der Bevölkerung erreicht und aktiviert. Die Wirksamkeit von Leitbildern mag generell umstritten sein. Vor dem Hintergrund der noch immer spürbaren Zerrissenheit der Region und einer gewissen Orientierungslosigkeit der Akteure, aber auch mit Blick auf die positiven Effekte des Leitbilds "Hamburg-Wachsende Stadt" dürfte es aber sinnvoll sein, die vielfältigen (wirtschafts)politischen Konzepte zu einer einheitlichen Botschaft zusammenzuführen. Stellenwert und Perspektiven der Industrie müssen Teil dieser Botschaft sein. Das Leitbild sollte darüber hinaus Orientierungsmarke für Standortmarketing und Ausrichtung der Wirtschaftsförderung sein.

Kompetenzfeld-orientierte Technologiepolitik

Mit der kohärenten Innovationsstrategie verfügt Berlin über ein inhaltlich wie organisatorisch stringentes Konzept zur Förderung wissensintensiver Zukunftsfelder, das sich - ähnlich wie die Wachstumsinitiative 2004 bis 2014 - dadurch auszeichnet, dass es gemeinsam von Politik und Wirtschaft entwickelt, umgesetzt und kontrolliert wird. Es gibt eine wachsende Zahl von Akteuren in Wissenschaft und Wirtschaft, die kritische Masse dürfte in allen Kompetenzfeldern erreicht sein und die Zahl der Beschäftigten entwickelt sich fast durchweg überdurchschnittlich.

Zu prüfen ist allerdings, inwieweit die technologiegetriebenen Wachstumspotenziale mit der Beschränkung auf die bestehenden Kompetenzfelder ausgeschöpft werden und wo Alleinstellungsmerkmale Berlins entwickelt werden könnten. Die kontinuierliche Evaluierung potenzieller Kompetenzfelder, in denen die Region komparative Standortvorteile und einen gewissen Entwicklungsvorsprung hat, ist daher unverzichtbar. Ein Beispiel dafür, dass Erweiterungsspielräume bestehen, ist die gerade als sechstes Kompetenzfeld anerkannte Energietechnik.

o Um das Thema Nachhaltigkeit stärker in der Region Berlin-Brandenburg zu verankern, ist die Schaffung eines neuen Handlungsfeldes denkbar, das Umweltschutz und bessere Ressourcennutzung in den Unternehmen fördert, integrierte Produktentwicklung unterstützt und Projekte zum Klimaschutz in den Unternehmen anregt.

o Außerdem könnte unter dem Titel "Ökologische Modernisierung" ein Kompetenzfeld "Erneuerbare Energien" in das Cluster Energie integriert werden. Mit der wachsenden Zahl von Unternehmen in der Solarbranche verfügt die Region über eine kritische Masse an Unternehmen in diesem Technologiefeld. Hier könnten auch die Anstrengungen der klassischen Industrieunternehmen und Energieversorger im Bereich der nachhaltigen Energiegewinnung verfolgt werden. Durch horizontale Verknüpfung mit bestehenden Handlungsfeldern wie ökologisches Bauen könnten Beschäftigungsimpulse gesetzt werden.

Um die gesamtwirtschaftliche Effektivität der Kompetenzfeld-Initiativen beurteilen und neue, Erfolg versprechende Entwicklungen frühzeitig erkennen zu können, ist ein differenziertes monitoring erforderlich. Die derzeit verfügbaren Informationen lassen eine Evaluierung nicht zu. Benötigt werden insbesondere differenzierte Informationen über Nachfrage und Angebot auf dem regionalen Forschungsmarkt. Davon abgesehen bleibt es unabdingbar, dass die Zusammenführung der Innovationsprogramme von Berlin und Brandenburg vorankommt. In der Konkurrenz der Regionen um die zukunftsträchtigen Cluster hat die Hauptstadtregion nur eine Chance, wenn sie als ein Standort wahrgenommen wird. Die gemeinsame Clusterförderung sollte fortgesetzt und kontinuierlich überprüft werden.

Innovationspotenziale auch außerhalb der Zielcluster

Als Engpassfaktor für die Entwicklung von Forschungskooperationen in Berlin gilt die Unternehmensseite. Dies gilt in gewisser Weise für einzelne Kompetenzfelder, vor allem aber für diejenigen Branchen, die von der kohärenten Innovationspolitik nicht erreicht werden. Die Bedeutung dieser Betriebe für die lokale Wirtschaft wird weithin unterschätzt: Immerhin machen sie den größten Teil aller Betriebe aus und stellen mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze im Verarbeitenden Gewerbe. Dabei dominieren kleine und mittlere Betriebe. Vor diesem Hintergrund darf sich die Innovationspolitik - bei aller unbestrittenen Priorität - nicht auf die festgelegten Wachstumscluster beschränken, sondern muss auch Innovations- und Modernisierungsprozesse in Betrieben anderer Industriebranchen anstoßen und unterstützen. Dazu gehören entsprechende Unternehmensgründungen.

Berlin verfügt über ein ganzes Bündel von Maßnahmen zur Mittelstandsförderung. Diese sind allerdings, von dem auf Innovationen bei Unternehmensgründern zielenden Programm Pro- FIT einmal abgesehen, nicht hinreichend, um auf breiter Basis innovationsfördernd zu wirken. Ein Erfolg versprechender Ansatz, um Zugangshemmnisse kleinerer Unternehmen aus traditionellen Branchen gegenüber Forschungseinrichtungen zu beseitigen und Innovationen auf unterschiedlichen Ebenen der Betriebe auszulösen, sind "Innovationsgutscheine", wie sie in Baden-Württemberg - in etwas anderer Form auch in Bayern und NRW - ausgegeben werden. Diese Gutscheine zum Kauf von Forschungsleistungen setzen am Forschungsbedarf von KMU an, sind rasch und ohne großen bürokratischen Aufwand zu handeln und erfordern einen relativ geringen Einsatz öffentlicher Mittel. Berlin dürfte aufgrund seiner heterogenen und von vielen kleinen Industrie- und Handwerksbetrieben geprägten Wirtschaftsstruktur sowie mit seinen Fachhochschulen und deren Kompetenz in anwendungsorientierter Forschung und Entwicklung beste Voraussetzungen für die Einführung einer derartigen Innovationsförderung haben.

Image-Kampagne für den Industriestandort Berlin

Berlin gilt als international bedeutender Forschungsstandort. Seine Potenziale im Bereich der (wissensintensiven) Industrie - dem notwendigen Korrelat zur Forschung - sind dagegen kaum bekannt. Im Gegenteil: Selbst in Wirtschaftskreisen herrscht vielfach die Ansicht vor, Berlin habe gar keine Industrie mehr. Dieses Image verhindert Investitionen in Berlin und muss berichtigt werden. Anders ist die Situation an konkurrierenden Plätzen wie Hamburg oder München, die als bedeutende Dienstleistungszentren, als Hochburgen der Kreativität und zugleich als moderne Industriestandorte wahrgenommen werden - und das ja auch sind.

Mit dem Industriedialog und den beiden Industriekonferenzen von 2007 und 2008 sind wichtige Schritte getan worden, um einer Fachöffentlichkeit innerhalb der Stadt Vorstellungen vom industriellen Potenzial - von Größe, Struktur und Entwicklungschancen - zu vermitteln. Damit Bedeutung und Attraktivität des Industriestandorts Berlin auch überregional stärker zur Kenntnis genommen werden, sind jedoch weitergehende PR-Aktivitäten erforderlich. Dazu gehören intensive Bemühungen von öffentlicher Verwaltung, Wirtschaftsförderung und Verbänden um die überregional bedeutsamen Medien.

Im Rahmen einer offensiven Image-Kampagne für den Industriestandort Berlin sind solche Standortfaktoren stärker herauszustellen, bei denen die Stadt eine besonders gute Position, teilweise sogar ein Alleinstellungsmerkmal besitzt, und die zugleich wesentlich für Standortentscheidungen von Investoren und/oder (qualifizierten) Arbeitskräften sind.

Dazu gehören neben den oft genannten und weitgehend akzeptierten Faktoren (Forschung, Preisniveau, Kultur, Freizeit usw.)
- die große Zahl kleiner und mittlerer Industrie- und Handwerksbetriebe aus verschiedensten Branchen, die innerhalb eines hoch verdichteten Raums vielfältige Möglichkeiten für Bezugs- und Absatzkooperationen bieten;
- das Gewerbeflächenpotenzial, das im Zuge der Konzentration der Ansiedlungspolitik auf dienstleistungsintensive Branchen mit hohem Büroflächenanteil in den Hintergrund des Interesses geraten ist und viel zu wenig "verkauft" wird.

Auch Betriebe aus den Zielclustern, etwa aus Medizintechnik, Pharmazie oder Medien, benötigen Industrie-taugliche Flächen, und in diesem Segment des Immobilienmarkts besitzt Berlin sowohl mit Blick auf Lage im Stadtraum und verkehrliche Erschließung als auch wegen der vergleichsweise niedrigen Preise einen prägnanten Wettbewerbsvorteil. Empfohlen wird in Anlehnung an das Münchener Verfahren eine gemeinsame plakative Vermarktung von Industrieflächen durch öffentliche und private Eigentümer.

Ein weiterer Standortvorteil Berlins von wachsender Bedeutung ist das Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. Berlin nimmt hier sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht einen Spitzenplatz unter den Bundesländern und vergleichbaren Metropolen ein. Allerdings ist dies offenbar außerhalb Berlins nicht hinreichend bekannt, um Standortimage und Standortentscheidungen positiv zu beeinflussen. Nicht zuletzt in Anbetracht des schlechten Rufs der Berliner Schulen ist es wichtig, positive Beispiele aus dem Bereich der weichen Standortfaktoren, insbesondere des Wohnumfelds stärker zu kommunizieren.

Eine Image-Kampagne für die Industrie muss schließlich stärker auf die Chancen von Industrieberufen abstellen. Die gemeinsam von Stadt, Wirtschaft und Gewerkschaften in Köln getragenen Aktionen, Jugendliche für Industrieberufe zu interessieren, können als Benchmark angesehen werden.

Aufwertung der Berliner Industriegebiete

Die Berliner Industriegebiete sind weithin von kleinen und mittleren Betrieben aus unterschiedlichsten Branchen besiedelt. Zwischen den Betrieben bestehen kaum Beziehungen, es gibt viele brach liegende Flächen. Diese Strukturen erklären sich zu einem wesentlichen Teil aus den besonderen politischen Verhältnissen während der Teilung der Stadt und dem drastischen Einbruch der Industrie in den 1990er Jahren. Mit der Modernisierung der Fertigungsstätten und der Ansiedlung zusätzlicher Funktionen in Berlin steigen allerdings die Ansprüche an das betriebliche Umfeld - an Infrastruktur, Umweltqualität, Image und nahe gelegene Kooperationspartner aus dem Dienstleistungsbereich. In zunehmendem Maße hängen Verbleib und Expansion am Standort vom Zustand dieser Faktoren ab.

Es hat sich gezeigt, dass von einzelnen Unternehmen selten betriebsübergreifende Initiativen zur Verbesserung der Standortqualität ausgehen. Dagegen belegen mehrere aktuelle Beispiele, dass von der öffentlichen Verwaltung eingeleitete und mit einer Anschubfinanzierung versehene Versuche zum Aufbau gebietsbezogener Netzwerke von den Unternehmen durchweg gut angenommen werden und schon nach kurzer Zeit zu Ergebnissen führen. Insbesondere eröffnen sich Chancen dafür, dass Unternehmen und öffentliche Hand bestimmte lokale Aufgaben gemeinsam angehen und damit leichter und schneller lösen können.

Bislang werden kleinräumige Unternehmensnetzwerke nur vom Bezirk Tempelhof- Schöneberg sowie im Rahmen des Bund-Länderprogramms Stadtumbau West gefördert. In der Erwartung, auf diese Weise Wachstumspotenziale im Bereich der Industrie eher ausschöpfen zu können, wird ein Programm vorgeschlagen, nach dem der Aufbau kleinräumiger Unternehmensnetzwerke in Industriegebieten stadtweit und unabhängig von punktuellen Initiativen gefördert werden. Sie wären eine wichtige Ergänzung zu den im Rahmen der kohärenten Innovationsstrategie und der Gemeinschaftsaufgabe geförderten technologisch begründeten Netzwerken. Die Anschubkosten könnten beispielsweise aus dem von der Investitionsbank Berlin in die Diskussion gebrachten "Stadtentwicklungfonds" finanziert werden.

Das Thema "Qualifizierung der Industriegebiete" tangiert zwei weiter reichende Problemkreise: die Bestandspflege und die Industrieflächensicherung.

Die Gespräche mit Repräsentanten in Berlin ansässiger Industrieunternehmen haben ergeben, dass sie ihre Interessen von der regionalen Politik tendenziell nicht ausreichend wahrgenommen sehen. Die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen hat dies erkannt und will Aufgaben und Zuständigkeiten der Bestandspflege auf der Basis von Erfahrungen in anderen Städten grundlegend reformieren. Die Gestaltung der kleinräumigen Standortpolitik sollte ein wesentliches Element dieser Neuordnung sein.

Eine Hilfe bei der Aufwertung einzelner Standorte kann das "Entwicklungskonzept für den produktionsgeprägten Bereich" sein. Voraussetzung ist allerdings eine Aktualisierung des Programms im Hinblick auf die Flächenressourcen sowie eine inhaltliche Weiterentwicklung auf der Basis der Erkenntnisse, die inzwischen in der Standortforschung gewonnen wurden. Davon einmal abgesehen ist eine Neufassung erforderlich, um die sowohl bei einzelnen Bezirken als auch bei vielen Unternehmen bestehende Unsicherheit über Zielsetzungen und Verbindlichkeit des Konzepts zu beseitigen.

 

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